Schwarz wie die Nacht
Schwarz wie die Nacht. Seine Haare, seine Augen, und das Wasser in dem er jetzt trieb. Sein Gesicht unter der Oberfläche, seine Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Alice stand auf der Brücke und sah zu ihm hinunter. Das war's. Er war tot, und sie am Ende.


Auf dem Schulhof ging er an ihr vorbei. Schon oft hatte sie ihn gesehen, oft an ihn gedacht. Doch Alice wusste weder, wie er hieß, noch wo er wohnte. Sie kannte nur seine schwarzen Klamotten, die hohen Stiefel und seine langen schwarzen Haare. Diese schwarzen Haare, die so dunkel und glatt waren, dass es aussah, als würde sich dort irgendeine seltsame Flüssigkeit auf seinem Kopf befinden. Eine schwarze, fremdartige Substanz, die alles verschlingen würde, was in sie eindrang.
Sie wollte unbedingt ihre Hände in diese Haare grabe, während er in sie eindrang. Aber sie wusste nicht, wie es dazu kommen sollte. Ansprechen wollte sie ihn nicht. Dafür war sie zu schüchtern. Sie stand einfach bei ihren Freundinnen auf dem Schulhof, rauchte, und sah ihm nach, wenn sie ihn sah.

Umso unwirklicher wirkte es, als sie dann wieder auf dem Schulhof stand, und er ihr einen Zettel in die Hand drückte. Sie stand da, rauchte, und sah ihn um die Ecke biegen. Sie versuchte ihn anzusehen, ohne dabei zu starren.
Da kreuzten sich ihre Blicke. Er zog ebenfalls an einer Zigarette. Als er merkte, dass sie ihn ansah, ging er auf sie zu. Ein paar Meter vor ihr griff er in seine Tasche, holte einen Zettel heraus und drückte ihn Alice mit einem Zwinkern in die Hand.
Alice war wie versteinert. Rauch stieg aus ihrem halboffenen Mund. Doch er ging einfach schweigend weiter.
„Wer war das denn“ fragte Sophie.
„Ich habe keine Ahnung.“ murmelte Alice.
Sie konnte ihren Herzschlag hören. Jeder Schlag wirkte lauter als der Vorherige. War das gerade wirklich passiert?
„Ich geh mal eben auf's Klo.“ sagte Alice und ging.
Sie nahm die erstbeste Kabine, ging hinein und schloss ab. Sie kramte den Zettel heraus, faltete ihn auf und starrte auf die Wörter.

Meld dich bei mir

Es war nicht einfach nur gekritzelt, nein, wirklich schön und liebevoll geschrieben. Dahinter stand seine Handynummer, aber kein Name.
Alice kniff sich in den Arm.
War das wirklich passiert?
Sie kniff fester zu. Der Schmerz war da, doch es wirkte immer noch unwirklich.
„Au!“
Sie ließ ihren Arm los. Sie hatte so fest zugekniffen, dass sie blutete. Gut, am träumen war sie schon einmal nicht.
Alice steckte den Zettel wieder in die Tasche, hob ihren Rucksack auf und ging zum Unterricht.
Jetzt hatte sie seine Nummer, aber wie er hieß, wusste sie immer noch nicht.
Im Unterricht kritzelte sie die meiste Zeit in ihrem Block herum.
Zuhause angekommen, saß Alice auf ihrem Bett und hielt ihr Handy in beiden Händen. Seine Nummer hatte sie schon im Bus eingespeichert.
Was sollte sie ihm nur schreiben?
„Hey, hier ist Alice, das Mädel dem du heute deine Nummer gegeben hast. Ich sollte mich melden? LG“
Senden.
Kaum war die Nachricht verschickt, wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Nun war es zu spät.
Am liebsten hätte sie sich irgendwo eingegraben.
Da vibrierte ihr Handy auch schon. Eine Nachricht von ihm. Wie gebannt starrte Alice auf den Bildschirm, ohne die Nachricht zu öffnen. Solange, bis der Bildschirmschoner wieder anging, und das Handy wieder zu einem schwarzen Klumpen Plastik wurde.
Jetzt reiß dich zusammen Alice. Es ist nur eine verdammte Nachricht.
Sie drückte auf ihr Handy, entriegelte es und las:
„Hey Alice. Kommt vielleicht etwas überraschend, aber hättest du Lust übermorgen mit mir was essen zu gehen? LG, Jack“
Jack also.
Und er wollte mit ihr etwas essen gehen. Sie ließ sich nach hinten fallen und starrte an die Decke. Wieder kniff sie sich in den Arm, in die selbe Stelle wie in der Kabine. Schnell spürte sie wieder Blut an ihren Fingern.
Es war immer noch kein Traum. Verdammt, was passierte hier gerade?
Alice, reiß dich endlich zusammen.
„Klar, gerne. Wo und wann denn?“
Sie versuchte, nicht euphorisch zu wirken, aber auch nicht zu distanziert.
Ihr Handy vibrierte wieder. Alice wurde wieder nervös. Aber diesmal las sie die Nachricht sofort.
„Nach der Schule direkt, im Indian Palace wenn dir das recht ist. Die haben wirklich gutes Essen. Sag mir einfach Bescheid.“
Jetzt brauchte sie nur noch eine Ausrede für ihre Eltern, warum sie nicht direkt nach der Schule nach Hause kommen würde. Am Besten würde sie ihnen einfach sagen, sie würde mit Sophie lernen und wüsste auch nicht, wie lange es dauern würde.
„Klingt super. Bis morgen in der Schule. GN8“
Handy lautlos, Wecker an, schlafen.
Der nächste Tag verlief ziemlich unspektakulär. Sie sah Jack ein paar Mal auf dem Schulhof, aber das war es auch.
Keine neuen Nachrichten von ihm. Egal, morgen würden sie zusammen essen gehen.
Ihre Eltern waren damit einverstanden, dass sie zu Sophie ging, auch wenn sie ja gar nicht zu Sophie ging.
Als Alice am nächsten Tag aus der Schule kam, sah sie Jack schon an einer Laterne stehen und sich eine Zigarette drehen.
„Wollen wir los?“ fragte er, und steckte dabei die Zigarette an.
„Klar, ich muss nur noch eben an der Bank vorbei.“
„Quatsch, ich lad' dich ein.“
Wow. Das auch noch. Jack schien ja wirklich ein Traummann zu sein.
Da saßen sie dann im Indian Palace. Das Essen kam direkt mit ihren Getränken. Und Jack hatte recht, es war wirklich gut.
Das war also ihr erstes Date. Und es sollten noch einige Folgen. Und es blieb nicht bei ein paar Dates, Alice und Jack wurden ein Paar. Ein glückliches, zuckersüßes, Kettenkarussell fahrendes Paar. Sie fahren so verliebt, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch schon aus ihren Ohren hinaus flogen.
Ja, um Himmels Willen, sie waren verliebt.
Doch noch immer zog Jack einen dunklen Schleier hinter sich her. Alice fragte nicht danach, sondern hoffte, Jack würde es ihr von sich aus erzählen. So war es nicht. Jedenfalls nicht ganz.

Es war ein schöner, warmer Abend, und die Beiden kamen gerade aus dem Kino. Es war ein wirklich gelungener Abend gewesen, und Alice freute sich, mit und neben Jack zu schlafen.
Als sie über die große Brücke gingen, war es bereits dunkel. Mitten auf der Brücke blieb Jack stehen.
„Alice, ich wollte nicht mehr, als einmal glücklich sein. Und du hast mir das Glück gezeigt.“
Es ließ ihre Hand los, und sprang die Brücke hinunter.
Alice sah hinunter.
Schwarz wie die Nacht.